Mittwoch, 2. Juni 2010

Kiss, 31.5., O2 World Hamburg

Das ist der Traum jedes Rockjournalisten: Noch einmal das berauschende Gefühl der musikalischen Defloration erleben. Noch einmal im Plattenladen stehen und über Kopfhörer die ersten Tackte Rock N´Roll hören. Noch einmal den magischen Moment der ersten Liveshow erleben, wenn die Saallichter aus- und die Scheinwerfer angehen, und zu wissen: Das ist mein Ding.
Ein Zug, der vor zwanzig Jahren abgefahren ist, lässt sich nur schwer einhohlen. Deshalb folgende Versuchsanordnung: Ein Rock-Novize wird den genannten noch unbekannten Reizen ausgesetzt und seine Reaktion studiert. Und welche Band wäre für dieses Experiment besser geeignet als die Meister des beidseitigen Kerzeanzündens: Kiss.
Proband ist eine Zeitungskollegin, diplomierte Kulturwissenschaftlerin und kunstbeflissen. Des öfteren nahm sie mich schon mit zu kulturellen Veranstaltungen, zuletzt Geschlossene Gesellschaft von Sartre — als Tanztheater. In der O2 World Hamburg spielt bei Ankunft gerade die Vorband Five and The Red One. Die fünf Ulmer zocken ansprechenden frühneunziger Alternativerock, wirken dabei aber so harmlos wie Gymnasiasten auf dem Raucherhof. Urteil der Kollegin: „Die Bühnenperformance ja lustig.“ Das Todesurteil für jede Rockband.
Schluss mit Lustig ist, als Kiss um kurz vor neun loslegen. Der riesige schwarze Vorhang mit dem Bandlogo fällt. In gleißendem Licht schweben Gene Simmons, Tommy Thayer und Paul Stanley vor glitzerndem Strass und schimmernden Nieten starrend, die Gesichter wie Samurai-Dämonen geschminkt, gitarrespielend mittels Hydraulik über Eric Singers Schlagzeug hinweg auf die riesige Bühne. Die Kollegin schaut ungläubig-fasziniert.
Schon beim vierten Song „Firehouse zieht Simmons seine Feuerspucknummer ab. Eine rote Stichflamme stößt aus seinem Rachen. „Besser als Tanztheater, oder?“ „Anders, aber auch gut“, lautet die Antwort.
Unwissenheit beugt Enttäuschungen vor: Beim faustharten „Deuce“ wird der schneidende Gitarrensound von Urgitarrist Ace Frehley schmerzlich vermisst — obwohl Thayer der bessere Musiker ist. Die Kollegin vermisst gar nichts: „Ace wer?“ Im Gegensatz zum Nachbarn stört sie sich auch nicht am AC/DC-T-Shirt eines jungen Konzertbesuchers – noch vor zwanzig Jahren wäre dieser Fauxpas eine sichere Methode gewesen, sich zwei blaue Augen einzufangen, aber dieser Zug ist…, ach sie wissen schon. Auch als Eric Singer es wagt "Beth", den Erkennungsson seines Vorgängers Peter Criss, anzustimmen, empört sie sich nicht.
Aber auch als Kiss das erste mal seit der Hot In The Shades Tour 1990 – es war die letzte mit Schlagzeuger Eric „The Fox“ Carr – „Lick it Up“ anstimmen ist sie nur bedingt bewegt.
Die Kollegin interessiert sich weit mehr für Sänger Paul Stanley (58), der sich unermüdlich mit den Händen durchs auftoupierte schwarze Haar fährt, die Lippen schürzt und sich in Obszöne Posen wirft - Stanley verfügt vermutlich über ähnlich viele Variationen mit dem Po zu wackeln, wie die Eskimos über Worte für Schnee. „Unverschämt, aber freundlich und sehr selbstbewusst“, lautet das weibliche Urteil. Besondere Freude kommt gegen Ende des Konzerts auf, als Stanley mit einer Seilbahn auf eine kleine runde Bühne in der Hallenmitte fährt – „Hihi, guck mal, die dreht sich auch noch“ – und „I Was Made For Lovin’ You“ singt: „Das kenne ich sogar“. Als Stanley über unsere Köpfe zurückfliegt, treffen ihn einige Bierbecher. Sie prallen ein seiner behaarten, noch immer muskulösen Brust ab. Stanley ballt die Faust und eine weitere Salve Böller geht hoch. Schon komisch was manche Frauen so unter Freundlichkeit verstehen. Beim Konfettiregen zum Rausschmeißer „Rock And Roll All Nite“ kommt gar Rührung auf: „Oh wie schön“, sagt sie, während Papierschnipsel wie Rosenblätter vom Himmel auf ihr schweißglänzendes Gesicht herabregnen. Sie strahlt: „Das war suuuuper.“ Defloration abgeschlossen, Experiment geglückt.
Die nächste Eskalationsstufe werden am 4. Juli die Brutalo-Death-Metaler Deicide in der Meier Music Hall sein. Mal schauen was die Kollegin dazu sagt. Aber zunächst steht „Die Möwe“ von Tschechow inszeniert von Jürgen Gossch auf dem kulturellen Austauschplan. Mal gucken ob´s mir beim ersten Mal weh tut.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen